Willi Storch

„Jüdischer Grabstein auf dem Donaueschinger Friedhof“

Aus: Bast, Eva-Maria; Thissen, H. Geheimnisse der Heimat. 50 spannende Geschichten aus Überlingen. Konstanz 2011,
Siehe Seite 52.

Steinerner Zeuge von Leid und Tod
Ein Grabstein, auf dem lauter kleine Steine liegen. Und ein denkwürdiges Datum: Der Grabstein von Willi Storch auf dem Donaueschinger Friedhof gibt gleich in zweifacher Hinsicht Rätsel auf. Das Rätsel um die kleinen Steine auf dem Grabstein ist rasch gelöst. Weist der Davidstern den Grabstein doch als jüdischen aus. Und Steine auf einen Grabstein zu legen, ist typisch, im Judentum. Die Geste stammt noch aus der Zeit der Wüstenbestattungen, als die Juden ihre Verstorbenen zum Schutz vor wilden Tieren mit Steinen bedeckten. Es ist eine Geste der Ehrerbietung, des Respekts und vielleicht auch der Trauer. Einen Stein auf einen jüdischen Grabstein zu legen hat eine ähnliche Bedeutung, wie Blumen an das Grab eines Christen zu tragen. Viel rätselhafter als die kleinen Steine ist die Inschrift auf dem Grabstein. Willi Storch sei ein Opfer des Naziregimes gewesen, steht dort zu lesen. Darüber ist sein Todesdatum eingemeißelt. 20. Mai 1945. Damals war der Zweite Weltkrieg schon vorbei und das Arbeitslager in Hüfingen längst aufgelöst. Woher kam Willi Storch also? Und wieso starb der 17-jährige zwölf Tage nach der Kapitulation?
Diese Frage hat auch die Donaueschinger Stadtführerin Martina Wiemer nicht losgelassen. „Er war 17 Jahre alt, hat diesen Wahnsinn überlebt und ist dann gestorben. Ich wollte unbedingt herausfinden, warum.“ Tatsächlich ist es ihr gelungen, Willi Storchs tragische Geschichte zu recherchieren: Sie machte ein Museum für jüdische Geschichte in Atlanta ausfindig, in dem die Geschichte der polnischen Familie Storch, oder Sztorch, basierend auf Erzählungen von Willis älterem Bruder Jack festgehalten ist. Als Hitlers Truppen 1939 in Polen einmarschierten, wurde Willi Storch, im Polnischen Volek Sztorch genannt, mit seiner Familie ins Ghetto Lodz deportiert. Die Nazis misshandelten Willis Vater bis der Mann seinen schlimmen Verletzungen erlag. Willis älterem Bruder Ruben gelang die Flucht in Richtung Russland, doch sie führte letztendlich in den Tod: Ruben wurde von den Nazis aufgegriffen und ermordet. Willis, Mutter, seine Brüder Jack und Marty und seine Schwester Chava wurden nach Auschwitz gebracht. Willis, Mutter und seine Schwester wurden grausam ermordet, Marty verschwand und wurde erst lange nach dem Krieg von Jack wiedergefunden. Jack und Willi schickten die Nazis auf einen jener grausamen Todesmärsche, mit denen sie ihren Opfern im Winter 1944/45 eine erneute, menschenverachtende Qual zufügten. Doch Jack und Willi Storch gelang, gemeinsam mit drei anderen Inhaftierten, das Unglaubliche: Die Flucht. 21 oder 22 Tage versteckten sich die jungen Männer im Schwarzwald, zwei der Geflohenen starben. Wie Jack Storch in seinen Erinnerungen schreibt, war er der Anführer der Gruppe und dafür verantwortlich, etwas zu essen aufzutreiben. „Wir haben gefroren und hatten Hunger“ (We were freezing and starving), schreibt Jack Storch. Gegen die Kälte versuchten sich die Männer mit Gräben zu schützen, die sie mit bloßen Händen gruben. Dicht aneinandergedrängt saßen sie verloren und ängstlich im Schwarzwald, bis sie von der französischen Armee entdeckt wurden. Die Franzosen behandelten die Flüchtlinge gut und gaben ihnen, wie Jack Storch schreibt, ein kleines Stück Menschlichkeit wieder. (and they brought us back to humanity a little bit)
Etwa zu dieser Zeit kapitulierte Nazi-Deutschland, Jack und Willi hatten die schlimmste Zeit ihres Lebens überstanden. Die Franzosen brachten sie ins Lazarett in Donaueschingen, wo Krankenschwestern versuchten, die geschwächten Männer wieder aufzupäppeln. Bei Willi war die Mühe vergebens. Er starb an Flecktyphus.
Jack, nun im Glauben, ganz alleine auf der Welt zu sein, sorgte für ein Begräbnis seines geliebten, jüngeren Bruders. „Der heute sichtbare Grabstein wurde in den 1980er Jahren auf Staatskosten errichtet, vermutlich an der gleichen Stelle, an der Jack einst begraben wurde“, erzählt Martina Wiemer. „Und damit wurde ein Denkmal geschaffen, an jene schreckliche Zeit.“
Ein jüdischer Stein inmitten christlicher Gräber, der an die Gräueltaten des Naziregimes erinnert. Ob sie gemeinsam in Frieden ruhen? Ob das überhaupt möglich ist? Das bleibt wohl ein ewiges Geheimnis. Und das ist vielleicht auch gut so. Denn so ist zumindest die Hoffnung noch am Leben. Die Hoffnung, dass Willi Storch, der kleine Junge, der im Kindesalter aus seiner Heimat vertrieben wurde, der unendliches Leid erfahren musste und schließlich, als Jugendicher, an einer heimtückischen Krankheit starb, letztendlich Frieden gefunden hat.